Linolschnitt

Linolschnitt

Monday, September 30, 2024

Nostalgie Tag Lichtensteig, 29. September 2024

Begegnung mit der Vergangenheit - auch Erbe

Drehorgeln, alte Autos und Motorräder, Fotoflohmarkt, drei traditionelle Events in Einem.

Wie früher: Kleidung, Autos Drehorgeln im Markt-Städtli Lichtensteig, Kanton St. Gallen, Schweiz.


Der verklärte Blick zurück in die Vergangenheit, Nostalgie auch für mich, in Erinnerung an mein früheres Leben als Lokaljournalistin, als ich jeweils an drei Veranstaltungen mit Kamera und Schreibblock erschien an jeweils drei Veranstaltungen, die jedes Jahr das Markt-Städtli Lichtensteig belebten, verbunden mit Lichtensteiger Persönlichkeiten: Das Drehorgel-Treffen von Fredy Künzle (1954-2016), dem Sammler von mechanischen Musikanlagen, der legendäre Fotoflohmarkt und der Markt für Ersatzteile und Zubehör für alte Motorräder. Neu dazu gekommen sind:  Oldtimer Autos und Vorführungen alter Feuerwehrgeräte. Es folgen Impressionen, Bilder, erstmals Videos und kurze Texte. 



Erstmals erwähnt 1228, bekam Lichtensteig 2023 den Wakkerpreis des Schweizer Heimatschutzes für kulturelles Erbe. Lichtensteig war ab dem Mittelalter Markt, hatte einen Stadtrat, Gericht und Münzrecht, eine Goldschmiede, in der der Mathematiker Jost Bürgi (1552-1632) in die Lehre ging.  Goldschmiede gründeten die ersten Banken, indem sie ihre Tresore für das Gold vermieteten an Kaufleute, die dort ihre Münzen einlagerten, dass sie vor Diebstahl geschützt waren. Auftakt für weitere Recherchen war ein Besuch im Toggenburger Museum. Dort sind zwei Grabsteine mit Wappen der Statthalter der Grafen von Toggenburg. In den revolutionären Bestrebungen von 1798, die eine Rolle spielten in der Gründungsgeschichte der Schweizer Demokratie, war Lichtensteig während kurzer Zeit Freistadt, dann Teil des Kantons Säntis der Helvetischen Republik. 

Im Toggenburger Museum zur Revolution von 1798. Zuerst Freistadt Lichtensteig, dann Kanton Säntis in der Helvetischen Republik.  

Während die Agrar- und Bauernrevolutionen des 16. und 17. Jahrhunderts und die sozialen Proteste der Arbeiterbewegung im 19. und 20. Jahrhundert Gegenstand historischer und sozialwissenschaftlicher Forschung waren, sind die Protestbewegungen des 18. Jahrhunderts im Zusammenhang mit der französischen Revolution weniger gut erforscht. Sie waren aber massgeblich für die Entwicklung der Schweizer Demokratie und die heute zu Tage tretenden Schwierigkeiten im Finanzausgleich, der Aufgabenteilung zwischen Bund und Kantonen, im Rechtssystem und bei der Finanzierung von Verteidigungsausgaben in der Schweiz heute.  Mehr dazu in Zukunft, auch über die Bedeutung der dunkelhäutigen Figur auf der Tafel zum Kanton Säntis der Helvetischen Republik. So weit zu den Vorbemerkungen. Bezug zu heute und den Finanzkrisen hat das Lied von Macky-Messer aus der Dreigroschenoper von Bert Brecht (1898-1952), das das Mädchen am Nostalgie-Tag auf der Drehorgel spielte. Kurt Weill (1900-1950) schrieb die Musik. Das Werk wurde 1928 uraufgeführt in Berlin und wurde zum Theater-Hit der 1920er Jahre. 




Drehorgeln


In der Zeit vor Plattenspieler, CD und Spotify kam die Musik für Tanz, Unterhaltung und kauffördernder Berieselung beim Shopping entweder von leibhaftigen Musikkapellen, oder von mechanischen Musikmaschinen. Geschichte und Beispiele der mechanischen Musikindustrie, die ab dem 19. Jahrhundert eine bedeutende Industrie war, kann man in den Führungen in Fredys Mechanischen Musikmuseum in Lichtensteig erfahren. Es war auch offen am Nostalgietag. Weil es damals auch keine Sozialversicherung gab, war das Drehorgelspielen in den Städten des deutschen Sprachraums auch eine Möglichkeit für Taglöhner ohne Auftrag, Arbeits- und Erwerbslose, sich ein Zubrot zu verdienen. Kriegsversehrte Invalide der preussischen Armee erhielten nach ihrer Wiederherstellung im Lazarett statt einer Rente eine Drehorgel geschenkt (Führung Fredys Mechanisches Musikmuseum). Den meisten, die sie kurbelten auf der Strasse, vor einem Kaufhaus, konnten sich eine eigene Drehorgel nicht leisten, sondern mieteten sie. Zentrum des Drehorgelbaus war Berlin. Die Drehorgelspielerin mit dem Berliner Bär reiste an aus Berlin.





Links alte Orgel mit Walze. Rechts Spieldose mit Lochscheibe zum Wechseln.


Das Innenleben der Drehorgel mit Walze.


Auf dem nächsten Video spielt der Drehorgelspieler auf der Bühne einen bayerischen Schuhplattler, was die Zuschauer zum Tanzen anregt. Im Vordergrund das ältere Paar in altertümlicher Kleidung aus Filz.


Ich gehe weiter zum Fotoflohmarkt auf dem Goldigen Boden. Der Lichtensteiger Fotoflohmarkt war vor dem Aufkommen der digitalen Fotografie, als sich viele nur einmal im Leben eine Kamera leisteten, ein europäisches Ereignis. 

Fotoflohmarkt


Hobbyfotografen der gehobenen Klasse und Profis suchten hier nach günstigen Angeboten von Leica Objektiven und Sammelobjekten. Nachdem die meisten Leute umstellten auf Digitalfotografie und auch die Kameras der Handys immer besser wurden, gab es eine Flaute. In diesem Jahr war das Angebot wieder grösser. Erstens gibt es jetzt doch eine ansprechende Auswahl an digitaler Fotografierware. Die analoge Fotografie mit Film findet aber unter Liebhabern wiederum Freunde. 

Alte Mittelformat Kameras.


Meine erste Kamera war eine Voigtländer Mittelformat Kamera im gleichen Stil. Meine Freundin auf der Fahrradtour nannte sie die Waschmaschine. Praktisch war an ihr, die einfache Art mit dem Selbstauslöser Fotos von uns beiden zu machen. Ich stellte sie an einen Ort hin, schaute durch den Sucher, dass meine Freundin richtig drauf war, stellte den Selbstauslöser ein und mich neben die Freundin. Meine Voigtländer war von meinem Grossvater. Mein Jugendfreund, von Beruf Fotograf, sagte in den 1980er Jahren, dass die damals neuen Kameras keine so gute Optik hätte. Meine Mutter hat damit viele Fotos gemacht, die sie dann ohne zu vergrössern im Zahnarztlabor selbst entwickelte, dass sie nur die wirklich guten Bilder vergrössern liess. Leider habe ich davon nichts mehr, wegen der Erbfeindschaft, die sich ja inzwischen als übelste Verbrecherbande heraus gestellt hat. Auch Bildbände vergangener Grössen der Fotografie findet man an den Ständen Goldenen Boden. 

Fotobände und altes Familienfoto

Neben solch Foto-Nostalgia waren Fotobände, Retrospektiven namhafter Fotografen. Lange schon knipse auch ich fast nur noch mit einer kleinen Pocket Kamera. Auch mit meiner Systemkamera mit Wechselobjektiven fotografiere ich fast nur noch mit Automatik. Die beiden sind derart computerisiert, dass man alles selbst programmieren müsste. Was habe ich mich da früher bei der Lokalzeitung bemüht mit Einstellungen, Kursen und Studium von Fotografiebüchern, bis ich im Theater mit dem Bühnenlicht, bei Lampionumzügen gute Fotos machen konnte. Als ich mir dann 2004 die erste digitale Spiegelreflex-Kamera kaufte und ein lichtstarkes Normal-Objektiv dazu, das mehr kostete als die Kamera, die ja damals auch noch recht teuer war. Auch einen neuen Laptop brauchte ich, weil der alte zu schwach war. Das Steueramt änderte dann meine Steuererklärung ab, sodass ich diese Arbeitsmittel nicht abziehen konnte von den Einnahmen. Die Begründung war, dass meine Arbeit Einkommen aus Privatvermögen sei. Wenn ich dafür eine Kamera bräuchte, sollte sie die Zeitung bezahlen, obwohl ich freie Mitarbeiterin war. Da hatte ich noch keine Ahnung, dass ich heraus gepickt war wegen einer Nazi-Eugeniker-Legende aus der Zeit vor meiner Geburt. 

Noch ein Familienfoto


Die mit dem Foto von Tante Carola aus New York suggerierte Drohung dazu war im Übrigen auch falsch. Sie meinten damit eine andere Carola, die Tochter des Mitbegründers der Soziologie, Ferdinand Tönnies (1855-1936). Seine Familie war von den Nazis mit Sippenverfolgung bedacht wegen seiner soziologischen Arbeit, die bis heute in den Sozial- und Wirtschaftswissenschaft gelehrt wird, insbesondere in der Agrarwirtschaft. Sie flohen vor den Nazis nach Grossbritannien, verloren aber ihr Vermögen in Deutschland. Carola besuchte ihre Tochter, die eine gute Freundin meiner Familie war, und deshalb war ich in meiner Kindheit oft Zuhörerin, wenn meine Eltern und ihre Freunde über soziologische Theorien diskutierten, insbesonder über die Protestantische Arbeitsmoral. Ich habe auch nie verstanden, weshalb selbst linksintellektuelle aus der Schweiz, wenn man sie anspricht sogleich einschnappen und Erklärungen hervor bringen, dass das eine ungültige Theorie sei. 

Wie früher, waren die Fotografen mit ihren Fototaschen und Spiegelreflexkameras mit den langen Objektiven, auch da, um gute Fotos zu machen. Da gab es auch viele gute Motive, sei es von den vielen Frauen, die mit langen Kleidern und Hut herum liefen, oder den Feuerwehrmännern, die eine lange Leiter herum zogen und aufstellten.


Feuerwehr anno dazumal: Leiter aufstellen.


 
Frauen in nostalgischer Kleidung und Feuerwehrleiter vor dem Toggenburger Museum.

Weiter gab es alte Motorräder und Oldtimer, darunter auch typische Marken, die in meiner Kindheit und Jugend auf den Strassen fuhren.

Dieses alte Motorrad wurde in der Schweiz hergestellt.


Noch ein paar alte Strassenflitzer.

Mein Vater hatte als Student in den 1950er Jahren ein Motorrad, mit dem er nach England fuhr. Es war deshalb auch kein Problem, dass ich nachdem ich den Führerschein endlich hatte nach vielen Fahrstunden und einmal durch die Prüfung fallen, weil ich gleich beim Einbiegen in die Hauptstrasse von Wasserburg am Inn - auch ein verwinkeltes altes Städtchen mit Markt und Arkaden - das Fahrschulauto, hinter dem ich her fahren sollte, verloren hatte. Es war ein weisser Golf und von denen gab es damals Anfang 1980er Jahre viele, auch noch VW Käfer.

Das grüne Modell rechts hatte meine Tante in Dunkelblau, aber mit Schiebedach.

Der Käfer meiner Tante hatte auch wie bei dem hier ausgestellten Blinker zum Ausklappen. Die waren aber nicht mehr in Betrieb, sondern sie hat moderne Blinker anbringen lassen. Einmal fuhren wir zum Familientag nach Künzelsau. Da hatten wir einen Platten. Ein Mann hielt an, wollte behilflich sein. Den hat sich angeschnauzt:


"Den Reifen wechsle ich selbst! Ich brauche keine Hilfe."


Gesagt, getan, holte sie das Ersatzrad, den Wagenheber, kurbelte den Wagen hoch, schraubte das platte Rad ab, das Ersatzrad an und wir fuhren weiter und kamen noch rechtzeitig am Familientag an. Das auch, weil mein Kinderfotoalbum verfälscht wurde, dass die Münchner Verwandtschaft den Familientag hatte. In Bayern macht man keinen Familientag. Meistens schlief ich während der Autofahrten damals aber im Loch, also dem Stauraum hinter den Rücksitzen. Meine Eltern hatten auch einen Käfer, einen etwas neueren. Wenn jemand rief:


"Papa fahr nicht so schnell!"


Dann fuhr mein Vater auf der Mittellinie in Schlangen. Ein bekannter Schriftsteller derselben Kriegskindergeneration sagte einmal, dass er  sevon seiner Mutter am Ende des Zweiten Weltkriegs aus dem brennenden Berlin geführt wurde, und:


"Wer das erlebt hat, dem macht keine Krise mehr etwas aus."


Ich vermisse sie, diese Generation, mit ihrem Humor, ihrer Aufbauarbeit, um die Welt für uns, ihre Kinder, besser zu machen.

Hier noch der Wagen für den flotten Mann der 1970er. Ein Corvette.


Noch ein letzter Oldtimer älterer Bauart sucht nach seinem Parkplatz.




Weisser Ford von anno dazumal.

Tschüss, sagt der Drehörgler aus Berlin. Schliesslich hat er noch einen weiten Weg, bis er zu Hause ist.



No comments:

Post a Comment