Linolschnitt

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Friday, November 17, 2023

Zur Neupräsentation der Sammlung E.G. Bührle im Kunsthaus Zürich ab 2. November 2023 (aktualisiert 27.12.2023, 3.2.2024)

Kunst mit Raub- und Fluchthintergrund


Von deutschen Nationalsozialisten im besetzten Frankreich geraubte Werke, mit den Biografien der jüdischen Vorbesitzer:innen. Links La Loi normale des erreurs: les transactions Göring-Rochlitz 2021 des zeitgenössischen Künstlers Raphäel Denis (*1979). 


Die Neupräsentation der Sammlung Bührle im Chipperfield-Bau des Kunsthaus Zürich soll den ursprünglichen jüdischen Eigentümern mehr Gewicht geben.  Den historischen Tatsachen wird diese Ausstellung nicht gerecht. Sie banalisiert und verfälscht. Vier Generationen ist offenbar Wille und Fähigkeit verloren gegangen mit der Vergangenheit umzugehen. Es geht um Bilder, die von Nationalsozialisten im besetzten Paris 1941/42 geraubt wurden und um solche, die als Fluchtgut gelten, wofür Herkunft, eventuelle Rückgabe an die Erben oder Entschädigung nicht restlos geklärt sind. Dazu wird im Juni 2024 ein neuer Provinienz-Bericht erwartet.


Nach der Besetzung Frankreichs 1940, schickten Hitler und Hermann Göring, eine der widerwärtigsten Persönlichkeiten des Nationalsozialismus (NS), fett und drogensüchtig, den Einsatzstab Reichsleiter [Alfred] Rosenberg (ERR), um Museen und Privatsammlungen zu plündern, vorgeblich für das Führermuseum in Linz und Görings Privatsammlung Carinhall. Zwei so erbeutete Bilder sieht man oben,  Lesender Mönch von Camille Corot (1796-1899) und Sommer bei Bugival von Alfred Sisley (1839-1899). Was nicht dem Kunstideal der Nationalsozialisten entsprach, zum Beispiel Bilder der französischen Impressionisten, die zur bevorzugten Kunstrichtung des studierten Kunsthistorikers Emil Bührle gehörten, verscherbelten die NS-Kunsträuber an Schweizer Kunsthändler, für Devisen und um ihren Eroberungs- und Vernichtungskrieg mit 50 Millionen Toten zu finanzieren. Der Auftrag des ERR war, jüdische Kulturgüter zu zerstören. Freunde sprachen Bührle an auf die zweifelhafte Herkunft (Provinienz) der Bilder, die er kaufte, insbesondere, diejenigen, die er über das damals grösste Auktionshaus für Kunst, Theodor Fischer in Luzern, erwarb. Da sagte er, dass er solche Bilder zurück geben würde nach dem Krieg, was er dann auch tat. 14 Werke aus der Sammlung E.G. Bührle definierte 1948 eine speziell hierfür gegründete Abteilung des Schweizer Bundesgerichts als NS-Raubgut, auf der Grundlage des Washingtoner Abkommens 1948. Neun davon kaufte Bührle anschliessend von den rechtmässigen Eigentümer:innen ein zweites Mal. Er verklagte darauf die Kunsthandlung Theodor Fischer  ihm den ursprünglich gezahlten Preis zu erstatten. Das Schweizer Bundesgericht gab Bührle Recht. Andere Kunsthandlungen, über die Bührle im Zweiten Weltkrieg Raub- und Fluchtgut gekauft hatte, verklagte er nicht.

Provinienzforschung zu Fluchtgut noch ausstehend


Gezeigt werden in der Ausstellung neben den Gemälden aus den Sammlungen jüdischer Bankiers- und Financiers in Frankreich, solche, die als Fluchtgut gelten. Unter Fluchtgut versteht man Wertgegenstände, die jüdische Flüchtende aus Deutschland mitgenommen haben. Kunstwerke waren deponiert in der Schweiz, vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933. Hier ist die Provinienz, also wem sie früher gehörten, nach Aussage der Ausstellungsmacher noch nicht abschliessend aufgearbeitet. Gerichte müssen klären, ob die früheren Eigentümer  aus der Not heraus, unter Umständen unter Wert, oder in einer Zwangssituation verkaufen mussten. Die Washingtoner Abkommen von 1948 und 1998 legten fest: Kunstwerke, die im Eigentum von während des NS-Regimes verfolgten Juden und Jüdinnen müssen grundsätzlich zurück gegeben werden. Dies im Gegensatz etwa zu anderen Vermögenswerten, wie Häuser und Grundstücke, deren nachträgliche und heutige Besitzer auch Eigentumsrechte haben. Noch heute gibt es Grundstücke, sogenannte Lost Places, deren Besitzverhältnisse ungeklärt sind, so auch in München. Als der Psychiater Viktor Frankl (1905-1997) nach Wien zurückgekehrt war nach der Befreiung des KZ Dachaus, wo er schwere Zwangsarbeit leisten musste, konnte er sofort seine berufliche Tätigkeit als Universitätsprofessor wieder ausüben und mit Vorträgen seinen Lebensunterhalt verdienen. Eltern, Bruder und seine Ehefrau lebten nicht mehr. An seinem früheren Haus musste er vorbei laufen. Es gehörte anderen. Andere wohnten darin. Die Regel war, dass die Überlebenden der KZs gar nirgends hin konnten und nichts mehr hatten, keine Familie, keine Freunde, keine Bleibe und kein Auskommen. 

Staatsgründung Israel erlaubte erst Auszug aus dem KZ


Noch zwei Jahre nach dem Sieg der Alliierten über NS-Deutschland warteten sie im KZ (Bericht von Anita Lasker-Walfish, 2000er Jahre), bis zur Gründung Israels 1948. Dann konnten die Jüngeren auch in andere Länder ausreisen. Die Washingtoner Abkommen geben aber keine Grundlage dafür, dass Kunstwerke mehrere Generationen später von ihren rechtmässigen Eigentümern enteignet werden und beispielsweise einer jüdischen Gemeinde zugesprochen werden, oder verkauft zum mehrfachen Wert heute, zu Geld gemacht werden für irgendwelche Zwecke. Wie ein Bericht im Auftrag der Stadt Zürich und der jüdischen Gemeinde Zürich festhält, bestehen Verträge, dass als Raubgut identifizierte Kunstwerke der Stadt Zürich nicht ausgestellt werden dürfen. Ein solcher Vertrag wäre ungültig und wirft Fragen auf über die Absichten der Stadtregierung und ihrem Verständnis von Demokratie und Rechtsstaat.

Enorme Wertsteigerung heute


Bei den Kunstwerken kommt dazu, dass ihr Wert enorm gestiegen ist. Ein von einer Stiftung geführtes Schweizer Museum liess gerade drei Bilder bekannter Maler des 19. Jahrhunderts für Millionenbeträge versteigern, um mit den Zinsen des Verkaufserlöses die laufenden Kosten für den Museumsbetrieb zu decken. Bilder und Künstler, der von den Nationalsozialisten verfemten klassischen Moderne als entartet verfemten Kunst, erreichten nach dem Zweiten Weltkrieg gerade deswegen hohe Bekanntheit und Verkaufspreise. Andere, insbesondere Malerinnen, die emigrierten und nicht mehr zurück kehrten nach Deutschland, die Öffentlichkeit scheuten und nicht sprachen über ihre Verfolgung, sind heute in Vergessenheit geraten und von keinem Wert für den Kunstmarkt (Symposium Haus der Kunst in München, 2012). Die Restituierung, also Rückgabe und Entschädigung von Kunstwerken, Grundstücken und Immobilien, die einst jüdischen Eigentümern gehörten, ist ein Rechtsprozess, bei dem abgewogen wird zwischen den früheren Eigentümern, der Rechtmässigkeit ihrer Ansprüche und den Rechten anderer, in deren Besitz sie heute sind. In vielen deutschen Städten prägten prächtige Synagogen das Stadtbild vor 1938. In München residiert heute, wo früher die Synagoge war, das Amtsgericht, von dem in früheren Artikeln auf diesem Blog einiges zu finden ist. Das herrschaftliche Palais, das Firmensitz und Bürogebäude der von jüdischen Unternehmern geführten Firma Diamalt, bei der mein Grossvater als Prokurist angestellt war, wurde abgerissen und für NS-Zwecke neu aufgebaut. Heute ist dort das Amerika Haus (Oskar Maria Graf, 1966). Die Stadt München hat der Jüdischen Gemeinde ein anderes Grundstück übertragen, auf dem die neue Synagoge gebaut wurde. 

Moderne Kunst aus deutschen Museen in der Schweiz versteigert und gerettet


Modern gemalte Kunstwerke, die das NS-Regime als entartet bezeichnete stammten von damals noch lebenden Künstlern, die selbst verfolgt waren, wurden ebenfalls über das Auktionshaus Theodor Fischer in Luzern versteigert. Sie hingen in deutschen Museen und sind immaterielles Erbe und Volksgut. Braucht es einen neuen Umgang mit der NS-Raub- und Fluchtgutkunst, damit  Kunstmuseen heute solche Bilder umstrittener Provinienz für mehrstellige Millionenbeträge an anonyme Käufer verkaufen, auf dass sie in privaten Salons und klimatisierter Lagerhallen verschwinden, oder vielleicht sogar erneut der Geldwäsche dienen? Um eines der Bilder in der Ausstellung, das dem jüdischen Textilunternehmer Richard Semmel (1875-1950) gehörte, ist bereits Rechtsstreit entstanden. Semmel floh 1933 zusammen mit seiner Frau in die Niederlande. Dort liess er seine Kunstsammlung versteigern. Ein Bild des Malers Paul Gaugin (1848-1903) fand keinen Käufer und gelangte dann 1937 in die Schweiz, wo es Bührle kaufte. Vier der sechs Bilder von Gaugin, die in der Sammlung Bührle sind, gehören zu den bekanntesten und innovativsten des Künstlers, die auch andere Künstler beeinflusste in ihrem Schaffen (Katalog zur Ausstellung Sammlung Bührle 2021). Semmel verstarb nach dem Krieg verarmt in Chile. Weiteres Fluchtgut in der Sammlung Bührle stammt vom Frankfurter Bankier Hugo Nathan und seiner Frau Martha, laut Begleittexten zur Ausstellung, Erbin deutsch-jüdischer Bankiersfamilien. Eine Privatbank ist nicht als persönlicher Reichtum der Inhaber zu verstehen, sondern eine Institution zur Finanzierung der Volkswirtschaft. In den USA , Deutschland und den Niederlanden prozessieren Erben um die Rückgabe, oder Entschädigung für Werke, die heute Millionen schwer sind. Vier Generationen später sind die Erben weit entfernt verwandt und kaum mittellos, da sie sonst keine solche Rechtsprozesse anstrengen könnten. Weder kann so das Leid der verfolgten früheren Besitzer wieder gut gemacht werden, noch ist es ein Gedenken an sie, wenn nun darum gestritten wird, wer heute einen grossen Gewinn machen kann mit den Kunstwerken, die einst ihnen gehörten. Auf der Flucht ging es ums Überleben, aber auch darum, dass die Kunstwerke in gute Hände kamen. Sie und ihre Vorfahren förderten die Kunst, für die die Gesellschaft noch kein Verständnis hatte, die oft die gesellschaftlichen Verhältnisse zu ihren Lebzeiten kritisiert. Kunstsammler kaufen Kunst mit Geldmitteln, die sie für ihre Geschäfte nicht benötigten. In der Sammlung Bührle sind auch Bilder von Künstlern, die Dekaden früher in Armut lebten, ihre Bilder zu Lebzeiten nicht verkaufen konnten, wie etwa Vincent van Gogh (1853-1890). 

Kunst hat einen immateriellen Wert und ist kein Profit


Den ursprünglichen Besitzern wäre es vor allem Recht, wenn die Bilder sorgsam aufgewahrt und ausgestellt werden. Kunstmuseen werden mit Steuergeldern gebaut und unterhalten, nicht damit man sie bewundern kann, wie die Direktorin des Kunsthauses Zürich an der Pressekonferenz erklärte, zur Rechtfertigung, dass die Gemälde dieser ausserordentlichen Sammlung nun so präsentiert werden, dass man sie nicht einmal richtig anschauen kann, wie das ein Kunstfreund sonst in jeder Austellung tut, alleine schon in der Art, wie sie in dieser Ausstellung aufgehängt und präsentiert sind. Die Schaffenskraft der Künstler, ihre ausserordentlichen Fähigkeiten, die Aussagen, die sie vermitteln wollten, wie sie die Kunst weiter entwickelt haben, wird misachtet, wie die Künstler selbst.  Neben den Bildern hängen lange, schwer zu lesenden Texten, die in bürokratischem Deutsch von Profit und materiellem Geldwert schreiben. Unklar auch, ob das Kunsthaus Zürich, die Stiftung Sammlung Bührle die eigenen Werke gegen den Zugriff anderer Sammler und Erben verteidigt, Werke für Millionenbeträge verkaufen will zur Deckung der eigenen Kosten, oder selbst sich sogar selbst neue Schnäppchen aneignen. Das Impressum zur Ausstellung, das den Presseunterlagen beigelegt ist, führt eine lange Liste kleingedruckter Namen auf, die an der Ausstellung mitgewirkt haben, kaum ohne Lohn. Über die Rolle von Emil Bührle als Waffenindustriellen schreibe ich später in einem zweiten Artikel. 

NS-Antisemitismus: Geplanter Genozid schloss die Schweizer Juden mit ein


Der NS-Kunstraub in Paris und die Vernichtung der europäischen Juden und ihrer Kultur und damit der eigenen, waren erklärte Kriegsziele des nationalsozialistischen Terror-Regimes und geplant. Der ERR hatte den offiziellen Auftrag, jüdische Kultur zu vernichten. An der Wannseekonferenz 1942, wo der Mord an den europäischen Juden beschlossen wurde, standen auch die Schweizer Juden und Jüdinnen auf der Liste zur Vernichtung, zur Endlösung. 80 Jahre später stellte ein Spielfilm diese Konferenz nach.  Die Tatsache, dass die Jüdinnen und Juden in der neutralen Schweiz auch auf der Liste zur Vernichtung aufgeführt waren, müsste vor Augen führen, in welcher schwierigen Situation die damaligen Schweizer waren, ihre Politiker, Unternehmensführer, diejenigen, die jüdische Flüchtlinge aufnahmen, versteckten und versorgten. Auch in der Schweiz zogen sich Menschen jüdischer Herkunft innerlich und äusserlich zurück aus Angst vor Enteignung und Verfolgung. In einem Fernsehbericht über den mutmasslichen Erfinder des VW-Käfers wurde gesagt, dass die meisten Menschen jüdischer Herkunft in der Schweiz, wie meine Oma in München, in dieser Zeit Gift in einer Schublade aufbewahrten, damit sie im Notfall, falls NS-Deutschland die Schweiz überfiele, oder die Antisemiten auch in der Schweiz dem deutschen Vorbild folgen sollten, sie sich selbst das Leben nehmen konnten. In Deutschland nahmen sich viele das Leben, um dem Zugriff der Gestapo und SS zu entgehen. Für andere stand der vorgetäuschte Selbstmord am Anfang ihrer Flucht.

Schweiz: Wirtschaftskrise mit schwieriger Landesversorgung


Die Schweiz war ab der Besetzung Frankreichs durch NS-Deutschland 1940 die einzige Demokratie in Europa und damals wie heute auf Import angewiesen. Ein Land kann nur importieren, wenn es auch exportiert. Sonst muss es Schulden aufnehmen, oder diese auf der eigenen Bevölkerung abladen, wie dies die demokratische Regierung der Weimarer Republik unter Kanzler Brüning 1923 tat, indem sie Hausbesitzern Zwangshypotheken verordnete, um die Rentenmark abzusichern, als die Hyperinflation wütete, Ersparnisse, Wertpapiere sich in wenigen Wochen in Luft aufgelöst hatten, Männer, Frauen und Kinder verhungerten. Es ist anzunehmen, dass jüdische Kunsthändler in Deutschland und die Besitzer der Gemälde, um die es hier geht, schon in den schwerwiegenden Wirtschaftskrisen der 1920er Jahre Geld und Vermögen verloren haben, sich das Leben nahmen.

Die Schweizer Juden und Jüdinnen waren auf der erwähnten Liste zur Vernichtung, weil eine Gruppe von deutschen Agrarökonomen Diejenigen, die den israelitischen Glauben hatten, aus den Volkszählungen und statistischen Daten heraus gerechnet hatten, mit IBM Heraklitmaschinen. Das war aber nur ein Nebenergebnis dieser wissenschaftlichen Agrarpolitiker, wie sie sich nannten. Die Nationalsozialisten und Wirtschaftsmächtigen wollten in Osteuropa ein Agrarland einrichten, um die deutsche Bevölkerung zu ernähren, die Menschen dort elendig zu Grunde gehen lassen, oder zu versklaven. Sie wollten die dort ansässige Industrie zerstören, um Absatz für die deutsche Industrie zu schaffen.  Mit Operations Research, einer Methode der militärischen Logistik, berechnete diese Abteilung der Agrarwirtschaft, dass mindestens zehn Millionen Menschen überflüssig würden. (Hirte, 2018). Auch die Philosophin Hannah Arendt (1906-1975) schreibt im Zusammenhang mit der Shoah vom überflüssig machen von Menschen. Über die Volkszählungen (1933 und 1939) und Statistiken kam nur heraus, wer das Judentum als Religion angegeben hatte. Der rassistische Antisemitismus wollte aber Alle vernichten, die der NS-Definition von Judentum entsprachen, die nach NS-Ideologie nicht-arisch waren, weder Mensch noch Tier, sondern minderwertige Wesen, an denen jedes sadistische Quälen und Morden nach NS-Rechtsverständnis erlaubt sein sollte.  

Pseudowissenschaft des sozialen Darwinismus


Der NS-Rassismus baute auf früher bereits vorhandene dunkle Verirrungen und Disziplinen auf, wie der Eugenik und dem sozialen Darwinismus (social darwinism, survival of the fittest). Die Protagonisten des mit eiskalter Technik und bürokratischer Organisation ausgeführten Judenmordes bedienten den seit der Aufklärung, dem 18. Jahrhundert, vorherrschenden Glaube an Wissenschaft und Technik. Einige Zweige der Wissenschaft haben noch heute diese dunkle Vergangenheit in ihren Kellern und ungenügend aufgearbeitet, zum Beispiel die Psychiatrie und die Ökonomie. Letztere baute im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert auf der Vorstellung, dass Arme, Behinderte, chronisch Kranke,  Ausdruck schlechter Gene im Volk seien, die wie Erbkrankheiten in der Tierzucht ausgemerzt gehörten. Der Antisemitismus richtet sich aber gegen eine erfolgreiche Minderheit. Diejenigen der vermeintlich Minderwertigen, die besondere Talente und Fähigkeiten hatten, sollten diese Talente als Sklaven in den Dienst der überlegenen Arier stellen. Sie suchten also nicht nur Juden, die einen Glaube hatten, sondern Menschen, die nach ihrer eigenen Definition jüdisch waren. Darauf angesprochen, dass jemand in seinem Umfeld Jude sei, soll Göring gesagt haben, dass er selbst bestimme, wer Jude sei.

Judenhass war überall als Ausdruck gesellschaftlicher Veränderung


Alle, die für Freiheit für ihr Land, für Demokratie und gegen den Nationalsozialismus kämpften in dieser Zeit, hatten Judenhasser und Antidemokraten in ihren eigenen Reihen, die USA, Tito (1892-1980) in Jugoslawien, der als Einziger aus eigener Kraft die Deutschen schlug. Auch in der Schweiz waren Antisemiten, Faschisten und Militaristen. Antisemitismus und die Versuchung, die eigene Schuldenwirtschaft durch Raub und Vernichtung zu betreiben, sprach damals viele an, hatte eine lange Tradition, besonders seit Einführung des Eigentums im 18. und 19. Jahrhunderts und dem Aufkommen des Wirtschaftssystems, das wir Kapitalismus nennen. 

"Der Einzelne wird gegenüber den ökonomischen Mächten vollkommen annulliert. Dabei treiben diese die Gewalt über der Gesellschaft über die Natur auf ungeahnte Höhe ... Darum schreit man: <Haltet den Dieb!>, und zeigt auf den Juden."

Max Horkheimer (1895-1973) und Theodor W. Adorno (1903-1969), Dialektik der Aufklärung (1944)


Antisemitismus ist auch heute kein blödes Gerede. Es geht immer darum, Sündenböcke zu finden und zu vernichten zum eigenen Vorteil. Antisemitismus ist gesellschaftliche Veränderung und deshalb schwer zu fassen und zu bekämpfen.

Die Schweiz war damals im Zweiten Weltkrieg Umschlagort für die geraubte Kunst und solche aus dubiosen Quellen. In dieser Ausstellung werden Werke aus der Sammlung Bührle in den Fokus gestellt, die einst jüdischen Kunstsammlerinnen und Kunstsammlern in Frankreich gehörten, deren Familien Wurzeln in der Türkei und dem arabischen Raum hatten, sephardisch-katholische Juden aus Italien, Belgien und Deutschland. Ihr Reichtum stammte ursprünglich aus dem Handel mit Diamanten und Edelsteine. Ihre Vorfahren haben europäische Könige und Staatsgründungen finanziert, weshalb sie Adelstitel verliehen bekamen. Sie haben ihr Vermögen, ihr Wirken in den Dienst der französischen Republik gestellt. Die Schweiz war bis zur Besetzung Frankreichs durch NS-Deutschland vor allem ein Durchgangsland für jüdische Emigranten. Ab 1940 war die Schweiz rundum von NS-Deutschland und seinen Verbündeten umgeben. Vom NS-Regime Verfolgte konnten die Schweiz nicht mehr verlassen, Exportwaren konnten nirgendwo anders hin, als nach NS-Deutschland, das besetzte Frankreich, oder das faschistische Italien. Auch die dringend in der Schweiz benötigten Importwaren konnten nur von dort in die Schweiz gelangen und mussten bezahlt werden. 

Enteignung durch französische Gesetze - France libre kämpfte weiter


Die antidemokratische, mit den NS-Besatzern zusammenarbeitende Vichy-Regierung, erliess 1940 das Statut de Juifs, zur Entrechtung und Enteignung der Juden und Jüdinnen in Frankreich.  Französische Behörden und Polizisten betrieben das am Stadtrand von Paris gelegene Sammellager Darcy bis 1943. Französische Bürokraten schrieben die Order, französische Polizisten verhafteten die französischen Juden und Jüdinnen. Politiker der Vichy-Regierung teilten den Judenhass der Nationalsozialisten, deren ideologischen Grundlagen für einen totalitären, undemokratischen Staat. Erst der heutige Präsident Emmanuel Macron gab das offiziell zu, obwohl dieses Verhalten in fast allen von den deutschen Nationalsozialisten eroberten Ländern üblich war. Eine Ausnahme bildete Belgien, das seine Jüdinnen und Juden nicht auslieferte, wie auch Dänemark. Gleichzeitig gab es in Frankreich einen starken Widerstand gegen die Nationalsozialisten. 

Freies Frankreich und die Résistance


Das freie Frankreich, France libre unter General Charles de Gaulle (1890-1970) im Londoner Exil, leitete den Widerstand, die Résistance, die mit dem britischen Geheimdienst zusammenarbeitete. Dieser bildete Gegner des Hitler-Regimes aus für Widerstandsarbeit, unterstützte Menschen, die den Juden im Untergrund und bei der Flucht halfen. Im Vergleich zu anderen Ländern überlebten in Frankreich viele Juden und Jüdinnen ohne belangt zu werden, oder im Untergrund. Viele beteiligten sich am Widerstand, schützten, versorgten und retteten andere Verfolgte. Beim Widerstand gegen das NS-Regime stand der Schutz, die Hilfe und die Rettung von Leben im Vordergrund. Der amerikanische Journalist in Paris  James McAukley veröffentlichte 2021 ein Buch über das Schicksal der jüdischen Kunstsammler in Frankreich: House of Fragile Things. How France betrayed the very Jews who placed their faith and fortunes in its ideals and culture. Dort ist auch das Schicksal von Béatrice Reinach, geborene de Camondo (1894-1944) nachgezeichnet. Ihr gehörte das Hauptwerk der laufenden Ausstellung im Kunsthaus Zürich, La Pétit Irène von Pierre-August Renoir (1841-1919). Der dem Impressionismus zugerechnete Maler hatte das Portrait  der  Mutter Irène von Béatrice Reinach 1880 gemalt, als diese acht Jahre alt war, im Auftrag ihres Vaters, dem Bankier Louis Cahen d'Anvers (1837-1922). Das Bild gefiel dem Auftraggeber nicht, sodass er verspätet bezahlte und es in die Wohnung der Dienstboten hängen liess. Warum es ihm nicht gefiel, ob seine Frau es mochte, ist nicht bekannt. Jedenfalls malte Renoir später noch andere Bilder für die Familie. Die Grossmutter Louise schenkte es ihrer Enkelin Béatrice zur Hochzeit. Das Bild der kleinen Irène ist bis heute sehr beliebt als Reproduktion. Berühmt wurde La Petite Irène auch durch den Kultfilm des Französisch-Schweizer Regisseurs Jean-Luc Godard (1930-2022) Ausser Atem ( À bout de souffle) von 1960. Die Gangsterbraut Patricia, gespielt von Jean Seberg (1938-1979), stellt sich neben das Poster von La Petit Irène und fragt den Gangster Michel, wer schöner sei, sie oder das Mädchen auf dem Bild von Renoir.



La Petit Irène (1880) von Pierre-August Renoir, Sammlung E.G. Bührle, Kunsthaus Zürich
Der Urheber Renoir ist 1919 verstorben und so kann das Bild frei verwendet werden. 


Béatrice Reinach, geborene de Camondo, liess sich nicht zum Opfer machen. Zwei Wochen vor der Befreiung durch die Sowjetarmee wurde sie in Ausschwitz wahrscheinlich erschossen, da zu diesem Zeitpunkt die Gaskammern schon ausser Betrieb waren und die Todesmärsche in andere Lager noch nicht begonnen hatten. Das letzte dokumentierte Lebenszeichen von Béatrice Reinach ist ein Schreiben an ihren Anwalt in Paris, dass er sich darum kümmern soll, dass die Bank die Pensionen der früheren Hausangestellten vom gepfändeten Konto auszahle. Das Wohlergehen von anderen waren ihr wichtiger, als das eigene Leid. Als bekennende Christin vertraute sie Gott und der Gottesmutter Maria, wie sie mehrmals sagte und schrieb. Das entsprechende Schreiben des Anwalts  an das Pariser Kommissariat ist erhalten, wie auch die eiskalte Nazibürokratie der französischen Beamten, die  die französischen Jüdinnen und Juden auslieferten. Béatrice Reichen  hatte vierzehn nicht-arische Hausangestellte, für die die Bank zuerst die Löhne, dann Pensionen zahlen musste.  Nach dem Krieg standen fast alle Überlebenden der Shoah ohne alles da. Die Camondos waren eine jüdisch-sephardische Bankiersfamilie, die ihren Adelstitel vom italienischen König verliehen bekamen, aus Dank dafür, dass sie die Einigung Italiens mit finanziert hatten. Der Vollständigkeit wegen sei dabei hinzugefügt, dass diese Einigung durch einen Krieg erfolgte, wegen dem noch heute manche Italiener sich erobert fühlen.

Vielfältige jüdische Kulturen und Herkünfte


La Petite Irène hing im Wohnzimmer des Ehepaars Béatrice und Léon Reinach und hatte eine besondere Bedeutung für die beiden, was vielleicht damit zu tun hat, dass Béatrices Mutter Irène sich früh vom Vater trennte und scheiden liess, Béatrice und ihr Bruder Nissim beim Vater aufwuchsen. Irène war eine Cahen d'Anvers, also eine Cahen von Belgien, also wahrscheinlich katholisch oder protestantisch, wobei dies nicht unbedingt bedeutete, dass jedes Mitglied der Familie eine Religion praktizierte. Ihre Grossmutter war Louise Marpurgo (1848-1926), ihre Urgrossmutter Clara Bischoffsheim (1810-1876). Die Marpurgos waren ein sephardisch-jüdisches Geschlecht von Trieste und dem österreichisch-ungarischen Marburg, heute Maribor in Slowenien, wo auch ein Familienzweig meiner Vorfahren lebte. Sie waren evangelisch. Dass die Marpurgos den Ortsnamen von Marburg als Nachname wählten, hat mit der dortigen Schule für Rabbiner ausgangs des Mittelalters zu tun, die spezialisiert war für die Regeln und Gesetze des kaufmännischen Rechts. Bischoffsheim ist ein Ort im Elsass, dessen Name von einer früh-europäischen Kultur vor den Kelten kommt, auf die heute alleine die baskische Sprache zurück geht. Auch sie waren evangelisch-jüdisch im 20. Jahrhundert. Meine Erbfeindschaft, die NS-Judenforscher und Eugeniker beriefen sich bei der Aushebung und Verfolgung von Menschen, die sie als jüdisch ansahen, auf solche Abstammungsdetails, die teils in den jüdischen Familien überliefert waren, von Gelehrten auf der Suche nach Identitäten für das liberale Judentum zusammen getragen aus archeologischen Ausgrabungen, zusammen mit verschiedenen Legenden und Mythen aus religiösen Werken, den Heiratskreisen. Erstens waren diese Personengruppen nicht als jüdisch geführt in den Volkszählungen, zweitens hassten die Nationalsozialisten und Antisemiten sie besonders, da insbesondere die Letzteren nach den NS-Legenden die echten Arier waren und sie ihre Geschäfte nach kaufmännischem Recht führten. Drittens vermuteten sie bei ihnen den enormen Reichtum der jüdischen Weltverschwörung aus den Protokollen von Zion. Irène Cahen d'Anvers versuchte ihre damals 69-jährige Schwester Elisabeth zu retten, als diese bereits verhaftet war. Sie ging ins Hauptrevier der Pariser Polizei und erklärte, dass sie und ihre Schwester Elisabeth zwei nicht-jüdische Grosseltern hatten, Elisabeth also nicht hätte verhaftet werden dürfen. Irène  führte damals den Namen ihres zweiten Ehemanns, einem nicht-jüdischen Italiener. (McAuley, 2021).

Abraham Accords


Ich ergänze diesen Punkt, weil ich es für von Bedeutung halte, wegen der gegenwärtigen Bewegung der Einigung der drei Religionen Judentum, Christentum und Islam auf den gemeinsamen biblischen Vater Abraham, bekannt vor allem durch die internationalen, politischen Bemühungen für Frieden im Nahen Osten, die Abraham Accords. Meine jüdisch-katholischen Verwandten in München waren gläubige Katholiken. Jüdisch-katholisch kann aber auch bedeuten, dass die Familien im Mittelalter und nach der Reformation die Bankgeschäfte für einen katholischen Fürsten oder König führten. Ausserdem trennt die jüdische Kultur Glaube und Ritual und es gibt eine Unterscheidung zwischen jüdisch (jewishness) und Judentum (judaism). Der Vater von Béatrice, Moise de Camondo, verstand sich als Sammler des Jüdischen.

Es ist nicht bekannt, ob Béatrice überhaupt viel Kontakt zu ihren Eltern hatte. Béatrice und Léon Reinach hatten noch vor dem Einmarsch deutscher Truppen in Paris 1939 organisieren können, dass La Petite Irène zusammen mit vielen anderen Gemälden aus Familienbesitz und tausenden von Kunstwerken aus den französischen Nationalmuseen ausgelagert werden konnten, um sie vor Kriegsschaden und Zugriff des Feindes zu bewahren. Das haben die NS-Kunsträuber allerdings heraus bekommen.  Am 7. Juli 1941 wurde es von der NS-Kunstrauborganisation ERR genommen, mit Hilfe der französischen Sicherheitsbehörden.  Die Reinachs wurden immerhin informiert.

 Jüdinnen und Juden Frankreichs liessen sich nicht zum Opfer machen


Als das Ehepaar vom Verlust des geliebten Bildes erfuhren, schrieb Léon einen leidenschaftlichen Brief an den Direktor der französischen Nationalmuseen, in dem er alles aufführte, was die jüdischen Familien des Ehepaars für Frankreich geleistet hatte, für La Patrie, für das Vaterland, für das man bereit war sein Leben zu geben. Léon Reinach stammte aus einer Familie von Gelehrten des liberalen Judentums, die die Kultur und Kunst Frankreichs förderten. Léon Reinach war Komponist. Wie von vielen anderen verfolgten Künstlern ist nichts erhalten von seinen Werken.  Der Raub von La Pétit Irène liess Léon zum Kämpfer werden. Sicher hatte er den Appell von General de Gaulle vom 18. Juni 1940 gehört oder gelesen, dass Frankreich nicht besiegt sei, weiter kämpfe an der Seite der britischen Verbündeten, mit den mitteln des Widerstands, im Untergrund, zusammen mit dem britischen Geheimdienst. Der britische Geheimdienst verbreitete General de Gaulles Rede mehrfach in Frankreich, noch vor dem Waffenstillstand, den NS-Deutschland mit der Vichy Regierung schloss, der den offiziellen Beginn der Besetzung weiter Teile von Frankreich durch NS-Deutschland markierte. Wie erwähnt, war Génerale de Gaulle wegen seiner Gegnerschaft zum Waffenstillstand nach London gegangen. Er stand dann einer Exilregierung vor, die den Widerstand organisierte. 


Léon schrieb in seinem Brief an den Museumsdirektor von der Liebe zum Vaterland, zählte die Leistungen der Vorfahren von seiner Ehefrau für Frankreich auf. Er schrieb von seinem Vater, dem Gelehrten und Forscher Théodore Reinach, der dem französischem Staat mehr vermacht hatte, als jedem einzelnen seiner sechs Kinder, darunter auch eine nach dem Vorbild der klassischen Antike gebaute Villa, die heute noch im Besitz des französischen Staates ist und öffentlich zugänglich. Léon schrieb von seinem Schwiegervater, der ebenfalls bedeutende Kunstwerke und Vermögen dem französischen Staat geschenkt hatte.  Der Museumsdirektor war beeindruckt und schaffte es, andere bedeutende Privatsammlungen jüdischer Sammler vor dem Zugriff des ERR zu retten. Das Bildnis der kleinen Irène kam nicht zurück. Entgegen den Angaben in den Begleittexten zur Ausstellung, nahm es Hermann Göring an sich und tauschte es gegen ein Bild, das mehr seinem Geschmack entsprach bei einem Kunsthändler ein. Es kam nach dem Krieg in eine Ausstellung mit anderer Raubkunst, wo es Irène sah und sich restituieren liess, um es dann zu verkaufen an Emil Bührle. Irène hatte ein zweites Mal geheiratet und eine zweite Tochter bekommen. Béatrice hatte eine Halbschwester. Beide, Irène und ihre Tochter Pussy haben den Krieg unbeschadet überlebt. In der französischen Todesanzeige von Irène de Camondo-Reinach steht, sie sei im Dienste Frankreichs gestorben, was ein Hinweis ist, dass sie wie viele andere in der Résistance war.

Verrat und antisemitische Verschwörungstheorien


Wahrscheinlich hatten die Nazi-Kunsträuber vom Bild der kleinen Irène und den Besitzern erfahren, weil es 1933 als Leihgabe in einer Renoir-Ausstellung gezeigt worden war, unter dem Namen des Ehepaars. Ich glaube nicht, dass die Nationalsozialisten es nur auf das Bild abgesehen hatten, sondern sie wollten an das Vermögen einer der zur damaligen Zeit reichsten Familie Frankreichs, oder damit irgendwelche Erpressungen veranstalten.  Hermann Göring nahm La Petite Irène zuerst in seine Privatsammlung, tauschte es dann bei einem Kunsthändler ein gegen ein Werk, das seinem Geschmack besser entsprach. Damals wie heute, verfolgen Antisemiten in Machtpositionen und ihre ausführende Meute, ob offen, wie die Nazis, heutige Rechtsextreme und terroristische Organisationen, oder verdeckt, der Verschwörungstheorie des enormen Reichtums der jüdischen Weltverschwörung, der sogenannten Protokolle der Weisen von Zion, verbreitet Anfang des 20. Jahrhunderts von russischen, zaristischen Geheimdienstkreisen, die nach der Russischen Revolution im französischen und schweizerischen Exil. Bilder haben dabei eine symbolische Bedeutung, und das jüdische Recht, das Frauen zu den Hüterinnen des Erbes der Vorfahren macht. 

Die Familiennachfolge geht nach jüdischem Recht über die Frau, damit wenn der Mann stirbt, verunfallt, oder scheitert mit seinen Geschäften, die Frau mit einem eigenen Geschäft für sich und die Kinder den Lebensunterhalt verdienen kann. Jüdische Menschen wurden über Jahrhunderte verfolgt, mit Arbeitsverboten der verschiedensten Art belegt, sodass sie sich schon früh sich auf selbständige unternehmerische Tätigkeiten verlegten. Die jüdischen Kultur gesteht Frauen Selbständigkeit und Ausbildung zu, fördert ihre Bildung. Wie bereits erwähnt, gibt es verschiedene Kulturen und Glauben innerhalb der jüdischen Welt, nicht nur Ashkenazy und Sepharden. Meine Gruppierung, die der jüdischen Unternehmer und Städträte, legten Wert auf Bildung, insbesondere ihrer Frauen, trugen massgeblich bei zur Innovation bei der Industrialisierung. 

Gewohnheitsrecht als Recht der Gemeinschaft


Das jüdische Recht, das ich hier meine, nach dem ich selbst jüdisch bin, ist eine Rechtsform, die üblich war in Europa in der Zeit vor der Einführung des Eigentums. Bis ins 19. Jahrhundert, waren die Rechte an Grund und Boden Nutzungsrechte. Als Gewohnheitsrecht (customary law) gelten erhaltene Rechtsformen auf der Basis von Nutzung von Gemeinschaftseigentum auch heute noch, zum Beispiel bei der Alpbewirtschaftung im Alpenraum,  der Allmend, in Deutschland die Altdeutsche Genossenschaft, in der Schweiz die vielfältigen Formen der Korporationen. Das ist auch heute geltendes Recht, sofern die nach altem Gewohnheitsrecht geführte Gemeinschaft sich nicht selbst auflöst, wie etwa die Wattwiler Ortsgemeinde in den 2000er Jahren, worüber ich als Lokaljournalistin geschrieben habe. Das weiterführende Thema kann hier nur angedeutet werden. Die Einführung des Eigentums und Erbrechts, wie wir es heute kennen, spielt aber eine grosse Rolle beim Aufkommen des rassistischen Antisemitismus im 19. Jahrhunderts. In Deutschland änderte sich die Rechtsform an Grund und Boden im 19. Jahrhundert. Bauern mussten ihre Höfe von ihren früheren Grundherren kaufen, wofür sie sich verschuldeten. Einige zahlten diese Schulden erst mit Hilfe der Inflation in den 1920er Jahren restlos ab. Das über Generationen angesparte Kapital der ursprünglich jüdischen Unternehmerfamilien und Financiers ist auch nach einer solchen, früher allgemein gültigen Rechtsform bewirtschaftet, in einer nach jüdischem Recht geführten Bank. Dass eine solche im Zweiten Weltkrieg in der Schweiz war, geht aus dem sogenannten Bergierbericht von 2001 hervor.

Die Republik stellt die Juden und Jüdinnen gleich


Die französischen Juden und Jüdinnen, die sehr für Frankreich und die Republik waren, wiegten sich in Sicherheit, als die Deutschen 1940 in Paris einmarschierten. Die Französische Revolution hatte den Juden 1791 die vollen Bürgerrechte gegeben, allerdings mit vielen Gegenstimmen und Diskussionen. Hauptgegenargument der Gleichstellung der Juden war, dass sie die Financiers der Könige und Adeligen gewesen waren, und deshalb der Monarchie zu nahe standen. Erst eine flammende Rede Robespierres (1759-1794) überzeugte die französische Nationalversammlung der Revolutionszeit, dass die Menschen- und Bürgerrechte für alle sind, auch für Jüdinnen und Juden. 

Die Juden von Frankreich verehrten ihr Vaterland, weil die französische Revolution sie schon 1791 gleichstellte, ihnen Bürgerrechte gewährte. Einige sollen bei der Abfahrt von Paris zur dreitägigen Zugsfahrt nach Ausschwitz die Marseillaise gesungen haben (McAuley, 2021). 

Das revisionistische Bild von den Juden als Fremdlinge im eigenen Land passte 1940 gut zur damaligen Flüchtlingsproblematik. Seit der Machtergreifung der NSDAP waren bereits viele verfolgte Juden und Jüdinnen aus Deutschland und Österreich nach Frankreich geflohen. Als die französische Vichy-Regierung 1940 das erste Gesetz zur Entrechtung der Juden einführte, das Statut des Juifs 1940, verkündete noch Francois Darlan, der Admiral im Ersten Weltkrieg und Mitglied der Vichy-Regierung war :


"Die staatenlosen Juden, die in den vergangenen fünfzehn Jahren unser Land überlaufen haben, interessieren mich nicht. Die anderen, die guten alten französischen Juden, haben das Recht für jeden Schutz, den wir ihnen geben konnten."


Béatrice bekannte sich 1942 zum katholischen Glaube. Auch ihre Mutter Irène war Katholikin.  In der französischen Republik war der Glaube Privatsache. Auch wenn viele bekannte jüdische Familien als sekular galten und fern der jüdischen Gemeinschaft und dem jüdischen Glaube waren, wir wissen es nicht, was ihr Glaube war, weil sie es nicht nach Aussen trugen. Die gegenwärtige Diskussion lässt ausser Acht, dass es ganz viele verschiedene jüdische Kulturen gibt. Die Nationalsozialisten bezeichneten Menschen jüdischer Herkunft mit christlichem Glaube als Konvertiten, um sie zu diffamieren gegenüber anderen Christen, und weil auch kirchliche Würdenträger jüdisch-christlicher Herkunft wichtige Rollen im Widerstand einnahmen, zum Beispiel die evangelischen Bekennenden Kirche in Deutschland.

Besetzt war die Gegend um Paris und auch ein Streifen an der Atlantik-Küste mit seinen Häfen. Béatrice und Léon Reinach hatten dort ein Haus, wohin sie 1941 reisten. Sie liessen sich scheiden, wobei Béatrice die Scheidung einreichte, angeblich, weil Léon eine Andere hatte. Béatrice bekam das Sorgerecht für den noch minderjährigen Sohn Bertrand. Es gab aber keine andere Frau, sodass ich davon ausgehe, dass sie sich der Résistance angeschlossen haben und vorgesorgt, dass das Vermögen der Commondos nicht in die Familie Reinach kam, falls sie ums Leben kämen. Möglicherweise wurden sie später nicht wegen ihrer jüdischen Herkunft verhaftet.

Enteignungen durch französische Gesetze


Am 2. Juni 1941 folgte dann das zweite Statut des Juifs, das die unmittelbare totale Entrechtung und den vollständigen Vermögensentzug zur Folge hatte. Eine Person, unabhängig von ihrer Religionszugehörigkeit, mit mindestens drei Grosseltern, die jüdisch waren, bei Verheirateten je zwei, galt als jüdisch, wie auch die Staatenlosen, denen in Deutschland bereits die Staatsbürgerschaft  entzogen war, weil sie Deutschland verlassen hatten. Der Wechsel vom Untertanen zum Staatsbürger ist Produkt der Gründung von Nationalstaaten. Nach dem Zusammenbruch der grossen Imperien Österreich-Ungarn, des Osmanischen Reichs, des zaristischen Russlands, lebten in vielen Nationalstaaten unterschiedliche Völker und Sprachgruppen. Der Völkerbund nach dem Ersten Weltkrieg versuchte ursprünglich Volksgruppen zur internationalen Friedensorganisation zu vereinigen. Es gab eine jüdische Liga und ein Deutsch-Slovene präsidierte die deutsche Liga. Heute vereinen in Europa nur noch Belgien und die Schweiz, die innerhalb föderaler Bundesstaaten verschiedene Sprachengruppen. 

Entrechtung und Enteignung der Juden in Frankreich 1941


Im zweiten Statut des Juifs, das bald dem ersten folgtestand: Frankreich wird den Franzosen zurück gegeben. Die Details: Juden waren ab 2. Juni 1941 von allen medizinischen und Rechtsberufen, von der Filmindustrie, Medien, Kultur, Politik, Banken und Wirtschaft ausgeschlossen. In seinem Brief an den Museumsdirektor hatte Léon alle Reichtümer aufgezählt, die mit diesem neuen Gesetz nun dem Staat zufallen sollten. Alle Bankkonten von Juden wurden gesperrt und die Reinachs mussten sich herum schlagen mit der Bürokratie des Commissariat Général aux Questions Juives, das für die Umsetzung und die ausführenden Bestimmungen des Statut des Juifs zuständig war. Nur dieses Commissariat konnte ihre Bank dazu veranlassen, notwendige Ausgaben zu tätigten, etwa die Löhne der Hausangestellten zu überweisen. Dafür mussten sie nachweisen, dass diese arisch waren, was daran zu erkennen war, ob ihr Bankkonto gesperrt war. Das war bei zwei der Fall. Für die anderen zahlte die Bank den Lohn aus. Béatrice hätte nicht einmal eine Fahrkarte kaufen können. 

Verhaftung und Verbringung in die Vorhölle der Vernichtung


Drei Monate später, am 5. Dezember, 1942 wurden Béatrice Reinach und ihre 22-jährige Tochter Fanny in der Nacht von französischen Polizisten abgeholt, zuerst auf eine Polizeistation gebracht, und dann in das Sammellager Drancy im Norden von Paris. Ihr Mann Léon mit dem Sohn Bertrand wurden eine Woche später auf dem Weg nach Spanien verhaftet, zuerst in ein anderes Lager gebracht, zwei Monate später kamen sie auch ins Lager Drancy. Noch für kurze Zeit war die Familie wieder vereint. Von Drancy gibt es mehrere Berichte von Überlebenden über Béatrice, die ihr dort begegneten, etwa von Simone Veil (1927-2017), der späteren Präsidentin des Europäischen Parlaments (1979-1982). Béatrice Reinach war bei ihrer Ankunft 48 Jahre alt, so alt wie die Direktorin des Zürcher Kunstmuseums heute, die Belgierin Ann Demeesters, aus dem Land, das sich weigerte, die Juden und Jüdinnen auszuliefern. Die belgische Bevölkerung wehrte sich. Der belgische König und vor allem die Königin setzten sich mit allen ihnen möglichen Mitteln bei den deutschen NS-Behörden ein für ihre Juden und Jüdinnen, ob reich oder arm. Von den sechs Millionen ermordeten Juden und Jüdinnen der Shoah war die überwältigte Mehrheit aus den Schtetls Osteuropa, namentlich der heutigen Ukraine. 

Als Béatrice und Fanny in Drancy ankamen, war das Lager noch unter französischer Verwaltung. Drei französische Polizisten hatten die Leitung. Der Abtransport Richtung Ausschwitz wurde organisiert vom Personal des Commissariat Général aux Question Juives. Die Zustände waren desolat. Es herrschte dort Hunger, Krankheit, die Hierarchie der zusammen gebrochenen Zivilisation. Wer erfahren will, wie eine eingeschlossene, schlecht versorgte Menschschar sich verhält, dem empfehle ich den Roman, für die deutsch-rumänische Autorin und Literaturnobelpreis-Trägerin Herta Müller Atemschaukel (2009). Ein Bericht des französischen Geheimdienstes zum Sammellager Drancy vermerkte, dass wer die wenigen, die dort wieder heraus kamen, nicht mit eigenen Augen gesehen habe, sich keine Vorstellung davon machen könne. 1943 übernahm  Alois Brunner (1912 - für tot erklärt) die Führung. Zu diesem Zeitpunkt hatten sich viele französische Kollaborateure von den deutschen NS-Besatzern abgewandt, sogar in der Mitglieder der Vichy-Regierung hatten sich dem verdeckten Widerstand von France libre angeschlossen. Die NS-Gewaltverbrecher wollten nun selbst Hand anlegen. 1943 markierte eine Wende. Auch die dümmsten Nationalsozialisten mussten erkennen, dass der Krieg für sie bald verloren sei. Sie beschleunigten ihr grausiges Werk und säten die Saat, die später aufgehen sollte.

Solche Sammellager gab es auch in Berlin und Wien (McAuley, 2021). Sie dienten der systematischen Auffindung von jüdischem Vermögen, der Erpressung und Folterung der jüdischen Besitzer, damit sie scheinbar rechtmässig Besitz und Vermögen selbst abgaben. Seit dem deutschen Ausbürgerungsgesetz von 1933 betraf das auch politisch Verfolgte und Emigranten, die nicht jüdisch waren, die Menschenrechtsverletzungen in Deutschland im Ausland anprangerten. Auch ihnen konnte automatisch die deutsche Staatsangehörigkeit aberkannt werden, womit ihr gesamtes Vermögen dem deutschen Staat zu fiel. Baron Louis Rothschild, Bankier und Kunstsammler in Österreich, wurde gleich nach dem Anschluss 1938 verhaftet. Er und  Familienmitglieder, die bereits im Ausland waren, wurden erpresst, in Verhandlungen verwickelt, bis er freiwillig auf Vermögen verzichtete (Dominik, 2017, Wikipedia). Der leitende Angestellte bei der Deutschen Bank, Siegfried Weil, der 1937 den Antrag für einen Reisepass stellte, und dadurch ins Visier des NS-Terrors geriet, wurde 1938 verhaftet und ins KZ gebracht, wieder frei gelassen und durch schrittweise bürokratische Schikane Stück um Stück dazu gebracht, seine Wertpapiere zu verkaufen für diverse Steuern, sein ganzes Hab und Gut, einschliesslich Hausrat und Kleidung, bis die NS-Schreibtischtäter im Berliner Finanzamt Auskunft hatten über sein gesamtes Vermögen, einen Grossteil davon selbst verkauft hatte, bis er dann 1941 nach Riga gefahren wurde, und dort erschossen. Hausrat und Kleidung kam an die Versteigerung.

Übernahme des deutschen NS-Kommandos


SS-Hauptsturmführer Brunner gehörte zu meiner Erbfeindschaft. Wie bereits erwähnt, waren nicht alle, die nach dem rassistischen Antisemitismus der Nazis als jüdisch galten, bekannt. Brunner tat sich hervor, durch Spionage im Familienumfeld, Aufstachelung und Erpressung von Denunzianten, Folter und Manipulationen, so vielen wie möglich ausfindig zu machen für die Sonderaufgabe, die Endlösung, wie sie es nannten, für Raub und dann Deportation in Vernichtungslager und Ermordung. Dabei suchten die NS-Schergen Menschen, bei denen sie potenzielles Raubgut, Vermögen vermuteten. Irène entging ihnen, weil sie offenbar nicht ins Visier gekommen war. Sie überlebte.

Brunner war wichtiger Mitarbeiter des Organisators des Mordes an den europäischen Juden, Adolf Eichmann (1909-1962). Er lebte nach dem Krieg unter falschem Namen in der Bundesrepublik Deutschland (BRD), ging 1954 nach Syrien, wo er noch in den 1980er Jahren via deutschen Medien unverblümte Rechtfertigungen für den Judenmord in die Welt hinaus schickte. Ein deutscher Journalist, der ihn interviewte in den 1980er Jahren sagte, Brunner sei die widerwärtigste Persönlichkeit, die ihm je begegnet sei. Brunner soll vom deutschen Geheimdienst BND, von alten Nazi-Netzwerken in Wirtschaft und Gesellschaft unterstützt und gedeckt worden sein nach dem Krieg. 

NS-System der organisierten Vernichtung ab 1943


Brunner richtete in Drancy dieselben Strukturen ein wie in den deutschen KZs: Die Juden sollten ihre Vernichtung selbst organisieren. Sie mussten eine Verwaltung bilden, einen sogenannten Judenrat, der die Befehle der Nazis weiter gab an die Internierten. Jede Befehlsverweigerung hatte sofortiges Erschiessen oder Deportation zur Folge. Die Union Générale des Israélites de France  beauftragten die Deutschen mit der Nahrungsmittelversorgung. Die Häftlinge wurden in Kategorien eingeteilt, die gleichzeitig die Triage, die Reihenfolge der Auswahl für den Transport ins Todeslager Ausschwitz festlegte, wobei die Mehrzahl in die Kategorie eingeteilt wurde, die jederzeit damit rechnen konnte, in einen der Züge Richtung Ausschwitz geschubst zu werden. Mehr Gnadenfrist hatten diejenigen, von denen Brunners Häscher noch nicht alle Familienmitglieder ausfindig gemacht und abgeholt hatten. Béatrice Reinach teilte Brunner in die Kategorie, die den längsten Aufenthalt im Sammellager versprach, die der jüdischen Selbstverwaltung. Béatrice half auf der Krankenstation, kümmerte sich um Mütter und Neugeborene. Sie rüstete in der Küche Gemüse, machte sich nützlich für die Mitgefangenen, wo sie konnte. Von  22-jährigen Tochter Fanny berichteten Überlebende, dass sie die Menschen aufmunterte mit ihrer jugendlichen, fröhlichen Ausstrahlung. Béatrice hatte als Mitglied der jüdischen Selbstverwaltung geringfügige Privilegien, weil NS-Schergen dies erlaubten. Alois Brunner entschied scheinbar willkürlich, wer in welche Kategorie eingeteilt wurde, berichteten Überlebende. 

Versuchter Ausbruch


Die neue Organisation des Durchgangslagers mit Judenrat, dessen Mitglieder auch unter Aufsicht das Lager verlassen konnten, brachte die Möglichkeit zur Subversion. Im September 1943 beteiligten sich Vater und Sohn Reinach an einem Ausbruchversuch der jüdischen Häftlinge. In drei Schichten gruben je zwanzig Mann einen Tunnel. Weitere standen Schmiere. Am anderen Ende hatten sie vereinbart, dass die Résistance zum richtigen Zeitpunkt Tore in die Freiheit und den Widerstandskampf aufmachen würde. Dann vergass einer seine Jacke. Die deutschen Inspektoren fanden Jacke und Tunnel, folterten den Mann und fanden so heraus, wer sich an der Meuterei beteiligt hatte. Drei Tage später wurden Léon, Bertrand und Fanny zusammen mit 1200 anderen mit Transport Nummer 62 nach Ausschwitz gefahren, darunter auch die Enkelin von Alfred Dreyfus, auch eine Verwandte der Reinachs. 

NS-Deutschland: Willkür der Verwaltungen und scheinbare Rechtmässigkeit 


Aufgrund der schwerwiegenden Wirtschaftskrisen, Hyperinflation war für viele Menschen die Lebenssituation prekär und der Verkauf eines Gemäldes auf normalem Weg fast unmöglich. Ausgrenzung und Enteignung der jüdischen Bevölkerung fingen schon vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 an. In den Behörden der Weimarer Republik waren bald nach dem Ersten Weltkrieg viele Kriegsheimkehrer ohne Ausbildung und Moral beschäftigt, die nach Gutdünken und ohne erkennbaren Sinn ihren Freiraum vor und während der NS-Zeit nutzten, räuberische Verwaltungsakte produzierten. Dazu kann man sich am Hörweg Über die Grenze des Jüdischen Museums Hohen Ems die Episode beim Gericht in Feldkirch anhören. Zwei verliebte Gymnasiasten aus dem Baltikum, das Mädchen war Jüdin, der Junge nicht, schafften es bis Feldkirch. Im Wald kurz vor der Schweizer Grenze trafen sie auf einen Landstreicher, der schon mehrfach wegen kleinerer Delikte mit der Polizei in Konflikt gekommen war. Alle wurden verhaftet, die junge Frau noch am selben Tag in den sicheren Tod nach Auschwitz abtransportiert, die beiden Männer dem Richter vorgeführt, der sie zum Tode verurteilte durch den Strang, mit Begründung, sie seien Partisanen. Es konnte in Deutschland jeder, der am falschen Ort etwas Falsches sagte, verhaftet werden und als Jude abtransportiert werden. 

Enteignungen durch judenfeindliche Gesetze in NS-Deutschland

Die Nationalsozialisten untermauerten Ausgrenzung, Enteignung und Vernichtung mit Gesetzen. Es war ihnen aber auch jede Intrige, Lüge, Erpressung und Gewaltanwendung Recht, um Verwerfliches den Anschein von Gesetzmässigkeit zu geben. Es gab aber auch Behörden, Verwaltungsangestellte, die ihren Freiraum nutzten, um jüdischen Menschen zu helfen. Man unterscheidet bei der Enteignung, der sogenannten Arisierung der Nationalsozialisten zwischen (Dominik, 2017):

  • Legale Arisierungen des Staates aufgrund von Gesetzen, Verordnungen und Erlassen.
  • Raub und Denunziation durch die antisemitisch aufgehetzte Bevölkerung, auch durch Nachbarn, Arbeitskollegen und Verwandte.
  • Enteignungen aufgrund von Vorwänden von Behörden, beziehungsweise deren Mitarbeiter

Bereits in der Hyperinflation des Jahres 1923 verloren viele ihr ganzes Vermögen. 1931 führte die demokratische Regierung der Weimarer Republik unter Kanzler Brüning die Verordnung für eine Reichsfluchtsteuer ein, um die massive Kapitalflucht einzudämmen nach der Weltwirtschaftskrise ab 1929. Gesetzliche Grundlage für diese Kapitalfluchtsteuer dazu war die Vierte Verordnung des Reichspräsidenten zur Sicherung von Wirtschaft und Finanzen und zum Schutz des inneren Friedens. Die Kapitelfluchtsteuer, vorgeblich zur Abschreckung Schwerreicher davor, ihr Vermögen ins Ausland zu verschieben, stand am Schluss der Verordnung im Namen des greisen Reichspräsidenten Paul von Hindenburg (1847-1934). Hauptsächlich ging es um soziale Massnahmen, wie Mietpreissenkungen, Steuererleichterungen, Vorschriften gegen Waffenmissbrauch, begründet mit der Sicherung des Weihnachtsfriedens in wirtschaftlich schlechter Zeit. 

Kapitalfluchtsteuer und Ausbürgerungsenteignungen


Diese Kapitalfluchtsteuer musste nicht nur zahlen, wer tatsächlich Geld auf ausländische Konten überwies, sondern wer seinen Wohnsitz oder ständigen Aufenthalt ins Ausland verlegte. Das wurde aber von den Steuerbehörden relativ willkürlich ausgelegt, indem sie schon vor der Machtergreifung Steuerbescheide schickten, die sie mit dem Wille zur Auswanderung begründeten (Dominik, 2017). Die Berliner Senatsverwaltung für Finanzen gedenkt auf ihrer Internetseite dem Schriftsteller Lion Feuchtwanger (1884-1958). Er war nach einer Auslandsreise 1932 nicht mehr zurück gekehrt nach Berlin. 1933 erliess das Berliner Finanzamt Zehlendorf einen Reichsfluchtsteuerbescheid und stellte einen Haftbefehl wegen nicht bezahlter Steuern aus. Die Gestapo sperrte seine Bankkonten. Die SA verwüstete seine Wohnung in Berlin. Er wurde zur Verhaftung ausgeschrieben wegen nicht bezahlter Steuern. Schon vorher zur Diskriminierung von Juden und Jüdinnen eingesetzt. wurde die Kapitalfluchtsteuer ab der Machtergreifung 1933  zur Auswanderungsenteignung. Ebenfalls 1933 erliess das NS-Regime das Ausbürgerungsgesetz gegen die Schädigung deutscher Belange im Ausland. 
Wer als Deutscher im Ausland gegen die Menschenrechtsverletzungen in Deutschland sich offen einsetzte, auch wenn er nicht Jude war, konnte ausgebürgert werden. Ausbürgerung bedeutete, dass sein gesamtes Vermögen vom NS-Regime eingezogen wurde. Die Reichsfluchtsteuer erstattete die Bundesrepublik Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg und der Wiedervereinigung teilweise zurück.

Ab 1934 wurde die Freigrenze für die Kapitalfluchtsteuer herab gesetzt und der Auswanderungswille für alle Juden vorausgesetzt. Banken und Auswanderungsbehörden verlangten eine "steuerliche Unbedenklichkeitserklärung", eine Bestätigung des Finanzamts, dass keine tatsächlichen oder erfundenen Steuereinnahmen im Deutschen Reich bestünden. Bei der Erfindung von Steuerschulden und Vermögen waren die Behörden sehr erfindungsreich (Dominik, 2017), wobei sie sich auch auf die schon vor der Weimarer Republik erlassenen Gesetze beriefen. Sie erstellten Steuerbescheide und verfügten Sicherungspfändungen. Innert kürze also, sahen sich viele Jüdinnen und Juden innert kürzester Zeit mit unüberschaubaren, nicht zu erfüllenden Geldforderungen überwältigt, auch solche, die vielleicht gar nicht wussten, dass sie jüdischer Herkunft waren. Walter Feilchenfeldt senior, der in der Ausstellung portraitiert ist, zahlte jedenfalls die Reichsfluchtsteuer, als er 1933 nach Amsterdam übersiedelte, um dort die Kunsthandlung Cassierer fortzuführen. Auf den Internetseiten des Berliner Senats sind Beispiele aufgeführt von Menschen, die stückweise ausgenommen wurden, ein ehemaliger leitender Angestellter der Deutschen Bank, der 1937 einen Reisepass beantragte, musste bis 1941 für die diversen Steuern und Sicherungen nach und nach seine Wertpapiere verkaufen, seinen Besitz auf ausführlichen Formularen angeben, von der Wohnungseinrichtung bis zu den Schuhen. Am Schluss der Verwaltungsakte des Berliner Finanzamts stand dann: Nach Riga überführt, also erschossen.

Judenfeindliche Gesetze 1933 nach Machtergreifung der NSDAP


Es folgte das Ermächtigungsgesetz 1933, das zum Boykott jüdischer Geschäfte rief, und das Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums. Sofort verloren jüdische Lehrer, Professoren, Verwaltungsbeamte, ihre Anstellung, wie auch verheiratete Beamtinnen, auch wenn sie nicht jüdisch waren. Das Gesetz zur Zulassung als Rechtsanwalt bedeutete Berufsverbot für jüdische Anwälte, womit sie die Existenzgrundlage für sich und ihre Familien verloren. Ich habe es zudem selbst erlebt heute. Alle machen mit, selbst wenn die juristischen Begründungen sich heute auf alte NS-Gesetze berufen, auch wenn man es ihnen sagt und schreibt. Das ist das Wesen vom Antisemitismus. Die jüdischen Rechtsanwälte und Hochschulprofessoren waren zudem oft liberal und wie man heute sagt, progressiv eingestellt, sodass sie auch aus politischen Gründen bedroht wurden. Die NSDAP, die 1933 die Macht an sich gerissen hatte, richtete sofort spezielle KZs ein für politische Gegnern. Exponenten und Verteidiger der Demokratie aus Sozialdemokratie und bürgerlichen Parteien (Schutzbund), Gewerkschafter wurden erschossen ohne Prozess.

Die Nürnberger Rassengesetze von 1935


Der Parteitag der NSDAP von 1935 beschloss die sogenannten Nürnberger Rassengesetze, darunter das Reichsbürgergesetz, das unterschied zwischen arischen Reichsbürgern und nichtarische Staatsbürgern. Die arischen Reichsbürger konnten ins Ausland reisen und wieder zurück nach Deutschland. Die nichtarischen Staatsbürger, die ins Ausland gingen, verloren ihre Staatsbürgerschaft. Ihr in- und ausländisches Vermögen fiel dem deutschen Staat zu. Elfte Verordnung des deutschen Reichsbürgergesetzes 1935:

"Jeder Jude (Staatsbürger) mit gewöhnlichem Aufenthalt im Ausland verliert seine deutsche Staatsbürgerschaft. Sein Vermögen verfällt dem deutschen Reich."

Ab da konnte das Nationalsozialistische Terror-Regime ungestört von Widerstand aus der Bevölkerung weitere Sondersteuern und Raubinstrumente erfinden, die nur Juden betrafen. Der Weg von der Entfernung zur Vernichtung war vorbereitet. Die Staatsbürger wurden zu Staatsfeinden. 1938 nach der Reichskristallnacht und dem Anschluss Österreichs kam die Verordnung über die Einziehung volks- und staatsfeindlichen Vermögens und die Verordnung zur Anmeldung des Vermögens von Juden: Jeder Jude musste sein in- und ausländisches Vermögen anmelden, seine Firmen und Beteiligungen, im Ausland lebende Juden mussten ihr in Deutschland befindliches Vermögen angeben. Ausgenommen waren persönliche Gegenstände und die des Haushalts, sofern sie nicht besonders wertvoll waren (Ausnahme: Antiquitäten). Möglicherweise konnte hier das eine oder andere Gemälde heraus gehalten werden. Wer aber falsche Angaben machte auf den Formularen vom Finanzamt, dessen Vermögenswerte wurden direkt vom Staat eingezogen. 1938 erschoss der 17-jährige Herschel Grynspan den deutschen Diplomaten Ernst vom Rath, was dem NS-Regime den Vorwand für die Reichskristallnacht und eine Sühnesteuer. Alle Juden mit Vermögen von über 5000 RM mussten 20% davon abführen. Bis die Gesamtsumme von einer Milliarde RM erreicht war, wurde diese Steuererhebung mehrmals wiederholt. Viele verkauften Kunstwerke, um die Steuer zu begleichen, was die Preise für Kunst sinken liess. Nazi-Grössen stockten dabei günstig ihre Sammlungen auf. (Dominik, 2017).

Juden - die heimat- und staatenlosen Fremdlinge


In der Schweiz hatten in der Zeit des Zweiten Weltkriegs nur die Hälfte der Schweizer jüdischer Herkunft die Schweizer Staatsbürgerschaft (Bergierbericht, 2001). Mein Urgrossvater in München war angesehener, wohlhabender Geschäftsmann, Gastwirt, der auch als Architekt tätig war. Er war einer der Ersten, der ein Telefon bekam, mit dem er dann mit sieben weiteren Haushalte von München telefonieren konnte. Die Telefon-Nummern bestanden aus drei Zahlen. Er bekam erst im 20. Jahrhundert die Bürgerrechte, als seine jüngste Tochter, meine Oma, schon geboren war. Sie wurde auf einem Internat der Englischen Fräulein zur Pianistin ausgebildet, damit sie später als Nonne Konzerte geben konnte, Schallplatten aufnehmen, um einem Kloster Einnahmen zu verschaffen, ähnlich der Erschafferin der Hummelfiguren, bei der allerdings das Unternehmen, dass die Porzellanfiguren herstellte, die Rechte hatte, sodass weder die Künstlerin, noch ihr Kloster etwas davon bekamen. Als sich ein Studienkollege, der in den 1955 in der Bundesrepublik Deutschland geboren wurde,  als Teenager den ersten Reisepass ausstellen lassen wollte, teilten ihm die Behörden mit, dass sie keinen Pass ausstellen konnten, weil er staatenlos sei. Seine Eltern waren Deutsch-Rumänen, die es versäumt hatten bei der Flucht 1945 und der Geburt des Nachzüglers, die richtigen Angaben zu machen. Rumänien hatte wohl den Jekken, also voll Assimilierten mit deutscher Muttersprache, die Staatsbürgerschaft verwehrt. Die Staatsbürgerschaft wurde erst eingeführt mit den Nationalstaaten. Bei deren Gründung war es einfach, diese nur für Nicht-Juden auszugeben.

In der damals in allen anderen Punkten wohl weltweit fortschrittlichsten Schweizer Verfassung von 1848, war das Grundprinzip, dass alle Bürger vor dem Gesetz gleich sind, auf Schweizer Bürger christlicher Konfession beschränkt, womit ausdrücklich Juden ausgeschlossen werden sollten. Die Verfassungskonferenz begründete dies in einer Broschüre an das Volk im Jahr 1848 so: 


"Man hatte hier vorzüglich im Auge, die Juden auszuschliessen, besonders mit Rücksicht auf die fremden, welche nicht ermangeln würden, auf zwischen der Schweiz und Nachbarländern bestehende Verträge sich zu berufen, welche nicht ermangeln würden, dass die Bürger dieser Staaten den Eidgenossen gleich gehalten werden wollen."

Information Schweizer Bundesrat von 1848, zitiert nach Süess (2023)
 Schweizerisches Nationalmuseum


Der Druck kam aus Frankreich, die jüdischen Schweizer und Schweizerinnen gleichzustellen. Die Schweizer Bundesverfassung von 1848, deren 125-Jahr-Jubiläum in diesem Jahr gefeiert wird, verwies den Entscheid an die Kantone, die darauf in ihrer Mehrheit den Juden, auch den eigenen, die Niederlassung und damit auch die Staatsbürgeschaft verweigerten. Als der Kanton Baselland 1851 französische Juden auswies und dann allen Juden den Aufenthalt im Kanton verbot, protestierte Frankreich im Namen seiner jüdischen Bürger. 

Die Schweiz betrachtete die Sache aus der Sicht von  Handelsverträgen und stellte Zollvergünstigungen in Aussicht, was von die französischen Verhandlungsführern entschieden und empört ablehnten. Fragen von hoher Moralität liessen sich nicht erkaufen. Ein vom US-amerikanischen Präsident 1855 in Auftrag gegebener Bericht über die rechtlichen Zustände in der Schweiz von 1859 brachte es an den Tag: Durch Frankreich und Preussen könne ein jüdischer Amerikaner ohne Probleme reisen, komme er in die Schweiz:

"Er wird als Schwindler, Wucherer, ein Feind betrachtet...Wird er nicht sogleich und ohne Umstände durch einen Gendarmen aus dem Kanton gewiesen, so erscheint ein Polizeibeamter, ihm einen Schimpf angedeihen zu lassen und eine übermässige Gebühr zu fordern."

Theo S. Fay, Botschafter der USA  in der Schweiz, 1855, zitiert nach Süess, Blog des Schweizerischen  Nationalmuseums

Einzelne Schweizer Kantone hoben die diskriminierenden Gesetze darauf sofort auf, darunter der Kanton St. Gallen. Die Bundesverfassungskommission akzeptierte erst nach hitzigen Debatten 1864, den diskriminierenden Verfassungsartikel 41 zu streichen. Es sprach dazu der damalige Bundespräsident, Jakob Dubs (1822-1877):

"...dass wir in dieser Judenfrage alleine stehen oder in einer Gesellschaft, die fast noch schlimmer ist als Alleinsein. Wir sind zum Fingerzeig der europäischen Gesellschaft geworden."

Der Schweizer Bundespräsident Jakob Dubs, 1864, zitiert nach Süess (2023) Blog des  Schweizerischen Nationalmuseums

Der latente und offene Antisemitismus war in der Zeit des NS-Regimes in Deutschland also wie in anderen Ländern verbreitet und hatte eine lange Tradition. Die Zuschreibung immer fremd zu sein, machte es einfach, die Diskriminierung auf den Ausländerstatus zu schieben. In der Schweiz waren viele jüdische Flüchtlinge aus Deutschland. 

Zu viel Fluchtkapital und judenfeindliche Gesetze in der Schweiz


Ab 1933 eröffneten wohlhabende deutsche Juden und Jüdinnen Konten und Depots in der Schweiz, lagerten Bargeld in Schweizer Banktresore ein, verlegten Firmengeflechte in die Schweiz hinein. Nach dem Anschluss Österreichs 1938 wuchs das Fluchtkapital in der Schweiz ins Unermessliche (Dominik, 2017). Die Schweizer Nationalbank mahnte die Schweizer Regierung zu Gegenmassnahmen. Für die Erhebung von Steuern sind in der Schweiz bis heute die Kantone und Gemeinden zuständig. Sie beauftragen oft Laien und Personal im Milizsystem. Es gibt viele Berichte, Skandale bis in die 1970er Jahre über administrativ Verwahrte, Verdingkinder, dem Umgang mit der Ethnie der Jenischen, die auf im Mittelalter ausgegrenzte Menschen jüdischer Herkunft zurück gehen. Man kann sich vorstellen, welche Forderungen an die aus Deutschland geflüchteten Juden und Jüdinnen gestellt wurden. Die Verzweifelten versuchten ihre Vermögenswerte in die Schweiz zu bringen. Wer sich in die Schweiz retten konnte, hatte oft verwandtschaftliche und geschäftliche Beziehungen dort, oder musste unfreiwillig bleiben. Nach der Besetzung Frankreichs 1940 wartete an allen Grenzübergängen die Verhaftung und der Abtransport ins Vernichtungslager. 

Viele Länder wehrten sich auch dagegen, jüdische Flüchtlinge aus Deutschland aufzunehmen, weil sie befürchteten, dass ihr eigenes Volk sich aufhetzte gegen die eigenen, seit Generationen ansässigen Juden und Jüdinnen. Die Schweiz war am Anfang vor allem Durchgangsland für die jüdischen Flüchtlinge. Die deutschen-österreichischen Bankkonten waren in der Regel gesperrt, ob Reichsfluchtsteuern bezahlt worden waren oder nicht. Die Schweiz wartete nun auf, mit:

  • Arbeitsverbot
  • Beschränkungen in der Verwaltung des eigenen Vermögens. Frauen bekamen in der Schweiz erst 1988 das Recht, ihr eigenes Vermögen selbst zu verwalten.
  • Bargeld über 100 Franken wurde der Verwaltung des Staates unterstellt.
  • Juden diskriminierende Steuern sollen erhoben worden sein.

Der in der Ausstellung portraitierte Kunsthändler Walter Feilchenfeldt (1894-1953) war zusammen mit seiner Frau Marianne Breslauer (1909-2001) bereits 1933 von Berlin nach Amsterdam gegangen und führte dort eine Filiale des Kunstsalons Paul Cassirer. 1939 hielten sie sich in der Schweiz auf und konnten wegen der deutschen Besetzung nicht zurück in die Niederlande. Sie bekamen eine Aufenthalts-, aber keine Arbeitsbewilligung. Das Bild Der Turm von van Gogh war bereits vor 1933 für eine Ausstellung im Kunsthaus Zürich und war darauf beim St. Galler Kunsthändler Fritz Nathan eingelagert worden. 1942 hatte das Ehepaar Feilchenfeldt-Breslauer keine Mittel mehr für die Lebenshaltungskosten und veranlassten den Verkauf des Bildes über den selbst aus Deutschland geflohenen St. Galler Kunsthändler Fritz Nathan. Die Angaben zum gezahlten Preis variieren im Abhandlungstext, wobei möglicherweise Nathan es zuerst für 12'000 Franken von den Feilchenfeldts für sich kaufte, also nicht nur den Verkauf an Bührle vermittelte, es dann für 45'000 Franken an Bührle verkaufte, wovon er nochmals 42'000 Franken an die Feilchenfeldts überwies. Aus Gründen von Buchhaltung und Steuern, hätte der Mäzen zum Beispiel nicht den Feilchenfeldts nicht einfach Geld geben können für ihren Lebensunterhalt, obwohl seine eigene finanzielle Lage sicher zugelassen hätte, eine ganze Kolonie mittelloser jüdischer Kunstexperten zu unterhalten. Essen und Bleibe in einer solchen Lage zu organisieren, geht noch ganz gut. Ständige Auseinandersetzung mit nicht erfüllbaren, vielfältige behördlichen Befehlen nach Abgaben, Steuern, der Herausgabe von Wertgegenständen, auch noch erfunden, macht das Leben unmöglich.

Kunstmarkt und das Auktionshaus Theodor Fischer Luzern


Es war schon vor dem Aufkommen des Nationalsozialismus in Deutschland schwierig in Europa ein Kunstwerk auf normalem Weg zu verkaufen, abgesehen davon, dass nur wenige vermögende Juden und Jüdinnen überhaupt über solche einen Wertgegenstände verfügten. Ein Gemälde ist ein Liebhaberobjekt. Man musste schon in der Wirtschaftskrise vor dem Verkauf einen Käufer finden, der genügend Geld übrig hat, Gefallen an einem bestimmten Werk, einem bestimmten Maler hat und nicht nur seine Wohnung mit dem Bild dekorieren will, wo ja die Wandfläche beschränkt ist. Käufer von Kunst erwarten Wertsteigerung. Potenzielle Kunstkäufer lebten in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg vor allem in den USA. Wegen der Wirtschaftskrise, Verarmung, Pleiten und Schulden, waren es viele, die ihre Gemälde aus besseren Zeiten verkaufen wollten oder mussten, verarmte Adelige, Witwen ohne Rente. Der europäische Kunstmarkt war ein Hort von Geschäftemachern und Spekulanten, Falschspieler, die mit Betrug und Erpressung operierten. Viele wären wahrscheinlich froh gewesen, wenn sie einen wohlhabenden, sachverständigen Käufer gefunden hätten, der ihr Gemälde wertvoll fand und kaufte mit einer sicheren Währung. 

Geldwäsche für Nazi-Deutschland durch Schweizer Kunsthändler


Emil Bührle kaufte die beiden Bilder auf dem Foto oben, die ursprünglich Moïse Lévy de Benzion gehörten,  Lesender Mönch von Camille Corot (1796-1899) und Sommer bei Bugival von Alfred Sisley (1839-1899) vom damals grösstem Auktionshaus für Kunst des Kunsthändlers Theodor Fischer. Dieser versteigerte auch Werke der von den Nazis verfemten modernen Bilder zeitgenössischer Künstler, aus der Ausstellung Entartete Kunst, die 1937 in den Münchner Hofgarten-Arkaden gezeigt wurde, dann als Wanderausstellung durch Deutschland zog. Sehr viele an Kunst interessierte Menschen sahen sich damals diese Ausstellung an, bei der die Begleittexte von antisemitischer und antimoderner Hetze strotzten. Viele der Besucher der Ausstellung Entartete Kunst kamen aber, weil sie die von den Nationalsozialisten geächteten Künstler und ihre Werke schätzten und dachten, das sei das letzte Mal, dass man diese Kunst noch sehen werde. 

Unter den Verfemten war auch der Wiener Maler Oskar Kokoschka (1886-1980), von dem sich Emil Bührle 1951 malen liess. Die Werke der NS-Ausstellung Entartete Kunst von 1937 waren aus deutschen Museen entwendet worden und welche verbrannt, sodass die heute hochgeschätzten Bilder der deutschen Expressionisten, Surrealisten, der klassischen Moderne, einschliesslich ihrer verfemten und verfolgten Künstler, drohten unterzugehen. Das Auktionshaus Theodor Fischer war notorisch für unseriöse Kunstgeschäfte, die noch zulegten, nach 1943, als die NS-Vernichtungslager bekannt wurden. Die Alliierten verboten mit der Londoner Erklärung von 1943 den Handel mit Kunstwerken von Juden und Jüdinnen aus Deutschland und den von ihnen besetzten Gebieten, und warnten die neutralen Länder ausdrücklich. Damit wurde es noch schwieriger für diejenigen, für die dies die letzte Möglichkeit war, mit dem Verkauf eines Kunstwerks den Lebensunterhalt, die Fahrkarte und Einreisebedingungen in ein freies Land zu erkaufen, oder andere zu unterstützen.

Vier Monate nach ihrem Mann Léon und ihren Kindern, bestieg Béatrice Reinach eine Personenzug für die dreitägige Fahrt nach Ausschwitz. Als sie im Todeslager ankam, war Fanny schon gestorben, Léon und Bertrand lebten noch für kurze Zeit. Ob sie sich noch einmal sahen, ist nicht bekannt. Alle waren zur Zwangsarbeit eingeteilt, starben nicht in den Gaskammern. Béatrice wurde getötet am 4. Januar 1945, zwei Wochen vor der Befreiung von Ausschwitz am 27. Januar 1945. Simone Veil kam mit Transport 71 am 15. April 1944 nach Ausschwitz, ging auf dem Todesmarsch zum KZ Bergen-Belsen, das am 15. April 1945 befreit wurde (McAuley, 2021). 

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